ORF aktion Weihnachten, Radio Salzburg vom 1.12.2023


Eine Nacht in der Bibliothek

Das Licht ging aus. Nur mehr das Knacken in den elektrischen Beleuchtungen, die stundenlang die Bücherregalgänge beleuchtet hatten, war zu hören. Es klickte und der Eingang war versperrt. Judith ruhte in einem Ohrensessel, den die Bibliothekarin in einer gemütlichen Ecke platziert hatte, tief und fest. Sie hatte die schlafende Judith nicht bemerkt. Wenn keine Besucher*innen mehr im Lesesaal waren, schaltete die Heizung automatisch herunter. Judith erwachte, weil sie fröstelte, sie blickte sich um und erschrak. Außer der Notbeleuchtung war es finster und eine unheimliche Stille umschlich sie. Sie sah auf die Armbanduhr, es war nach acht Uhr Abend. Sie sprang auf, um zum Eingang zu laufen, doch die Türe war versperrt. Sie rüttelte daran, es nützte nichts. “Mein Handy, wo ist mein Handy?”Da erinnerte sie sich, dass Handtaschen und Rücksäcke im Spint in der Garderobe bleiben mussten. Hektisch lief sie zum Tresen, wo die Bibliothekarin Dienst machte. Alles verschlossen, sie hatte keinen Zugang zum Telefon und Computer. “Shit, Shit”, schrie sie fassungslos die schweigenden Bücher an. Gerade heute war ihre Freundin aus der WG fortgefahren, sie fehlte in der Wohnung nicht. Anrufen konnte sie niemanden, sie hatte die Hoffnung, dass vielleicht ein Nachtportier sie findet, der seine Runden macht. Nur das leise Ticken ihrer Armbanduhr war zu hören. Normalerweise störte sie dieses Geräusch, doch nun war sie froh, wenigstens das Tiktak zu hören, denn die erdrückende Stille rauschte in ihren Ohren.

Judith schlenderte zurück zum Sessel und starrte in die Leere. Plötzlich glaubte sie eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Regal, auf dem Krimis standen, schwenkte in ihre Richtung. Von links bewegte sich flüsternd ein Bücherregal mit Taschenbüchern, die Familiensagen und Liebesromane zum Lesen anboten. “Pass doch auf», schnauzte das Taschenbuchregal das Krimi-Regal an.“ Gleich krachts, wenn du nicht Platz machst", drohte ein Krimi, auf dessen Cover eine rauchende Pistole abgebildet war. Er beugte sich leicht nach vorne, um seiner Drohung Ausdruck zu verleihen. “Du mit deinen lahmen Kommissaren, die hunderte Seiten brauchen, bis sie den Mord geklärt haben”, ätzte die Familiensaga, “hab dich nicht so. Wer liest dich denn noch, hm?”-"Und du, glaubst du deine Generationen von unglücklichen Familien fasziniert Leser*innen, die selbst Glück und Unglück in ihrem Leben erfahren haben, konterte der Krimi. “Bei mir gibt es aber ein Happy End, bei dir nur Leichen!” Ruhe, kein Buch widersprach. Ächzend meldete sich die Anthologie der modernen Lyrik zu Wort. “Was soll die Streiterei? Hier in meinem Buch werdet ihr nur Reimungsschönheiten finden»,sagte sie prahlerisch. “Was werden wir finden?” Der Krimi verstand nichts. “Reime, Verse -klingelt es?"- “Was soll ich damit? Morde sind prosaisch! Oder hast du schon einmal von einem Kommissar gelesen, der Goethe braucht, um einen Mord aufzuklären?" 

Judith richtete sich verwirrt im Sessel auf. “Spinne ich?” fragte sie sich. Sie blickte zu den Regalen, auf denen exakt ausgerichtet die Bücher standen. “In dieser gespenstischen Stille muss man ja Wahnvorstellungen bekommen.” Sie trommelte zum Zeitvertreib mit den Füßen auf den Boden. Es war kurz vor zehn Uhr, kein Auto fuhr auf der Straße vorbei, die Straßenbeleuchtung warf fahles Licht in die Umgebung. Judith seufzte tief auf. “So was kann nur mir passieren”, stöhnte sie, “ich werde mich abfinden müssen, die Nacht hier zu verbringen.” Lustlos zog sie ein Sachbuch aus dem Regal, das ihren Beinen am nächsten war heraus". Es war ein Gartenbuch mit Anleitungen zum richtigen Anpflanzen von Hecken und Sträuchern. Sie blätterte einige Seiten hin und her, dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.

“Aber in meinen Geschichten geht es um Liebe und Schicksal, das ist viel schöner als Paarreime und umarmenden Reime”, versuchte die Trivialliteratur sich ins Gespräch zu bringen. Und der Prosatext ist auch verständlicher, nicht so mit Worten und Bildern angefüllt." - “Im elegischen Distichon seinen Gefühlen Worte zu geben, ist wahre Kunst”, erwiderte die Anthologie gereizt. Dem Krimi rauchte der Kopf. “Die Realität ist doch, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, Mord, Betrug, Diebstahl ist so alt wie die Welt. Brudermorde, Völkermorde, wohin man schaut. Da ist doch der Krimi das einzig wahre Genre.” - Das einzig Wahre, wenn ich das schon höre", fauchte die Anthologie und blies dem Krimi den Staub auf das Cover. Wie viel Unglück ist damit schon angerichtet worden. Die einzig wahre Religion, der einzig wahre Glaube, die einzig richtige Staatsform. Wer kann denn sagen, was wahr ist?" Seiten raschelten, aufgeregt blätterten die Bücher in ihren Seiten, das Streitgespräch war abrupt beendet.

Mitten in der Bibliothek stand ein Zug aus Holz, eine Lokomotive mit sechs Anhängern. Der Zug transportierte Kinderbücher, Bilderbücher zum Anschauen und solche mit großen Buchstaben und vielen lustigen Abbildungen. Quer über dem Rand hing “Der kleine Bär” heraus, der zu den streitenden Bücher winkte. “Hallo, vergesst uns nicht, wir zeigen den Kleinsten die Welt in bunten Bildern. Sie sollen das Leben in ihrer Vielfalt kennenlernen, die Tiere, die Bäume und alles, was sie neugierig macht.”

“Kindergedichte sind so schön”, erwiderte die Anthologie. “Da schaut, hier ist ein Buch über Nilpferde!”, rief der kleine Bär.

"Ein Federchen flog durch das Land;

Ein Nilpferd schlummerte im Sand.

Die Feder sprach: „Ich will es wecken!“

Sie liebte, andere zu necken.

Aufs Nilpferd setzte sich die Feder

Und streichelte sein dickes Leder.

Das Nilpferd sperrte auf den Rachen

Und musste ungeheuer lachen, rezitierte die lyrische Anthologie Joachim Ringelnatz.

“Du gehst mir mit deinen Reimen auf die Nerven”. Der Krimi hatte keine Lust mehr zur Unterhaltung und schob sich zurück auf sein Regal. 

Irgendwo schlug mit voller Wucht eine Türe zu. Judith schrak auf, als sie den Lärm hörte. Ihr Herz raste, sie wusste momentan nicht, wo sie war. Sie blinzelte und erkannte im schwachen Notlicht, dass sie in der Bibliothek festsaß. Es war knapp nach zwei Uhr in der Früh. In ihren wirren Träumen spukten Krimis und Belletristik herum, die miteinander stritten. Sie beschloss sich umzusehen. Mit den Fingern strich sie an den Buchrücken entlang und wie im Traum fand sie das Regal mit den Krimis und zog ein Buch heraus, auf dem eine Pistole prangte, die vorne rauchte. Judith las den Klappentext. “Könnte spannend sein”, dachte sie. Statt es zurückzustellen, behielt sie das Buch in der Hand und spazierte an weiteren Regalen entlang. Sie blieb stehen, weil ihr ein Cover auffiel. Es zeigte einen Hafen, an der Mole stand eine wartende Familie, im Hintergrund ein Schiff. Vorsichtig holte sie es heraus, es war ein dickes Buch, eine Familiengeschichte, die über mehrere Generationen ging. Eigentlich war sie kein Fan von Schmökern und dicken Wälzern, aber das Cover gefiel ihr und sie nahm das Buch mit zurück zum Sessel. Ihre Augen brannten, weil sie sich beim Lesen in diesem Schlummerlicht überanstrengten. Judith ließ das Buch in ihren Schoß sinken. Es dauerte nur wenige Minuten und der Schlaf nahm sie wieder in die Arme.

“Siehst du”, zischte der Krimi zur Anthologie, “mich hat sie genommen, nicht deine langweiligen Verse”. Triumphierend klappte der Krimi sein Cover auf und zu. “Aber mich hat sie zuerst gelesen”, raschelte die Familiensaga. Sie konnte es nicht fassen, dass sie bevorzugt worden war. Die dicke Anthologie lächelte mitleidig, als sie sagte “Ihr dient ja nur der Unterhaltung. Mich braucht man für literarische Weiterentwicklung.”- “Angeberin!”riefen der Krimi und die Familiensaga wie aus einem Cover.

Mittlerweile kam die Morgendämmerung und der Tag brach an. Judith spürte, wie sie sanft an der Schulter wachgerüttelt wurde. Sie zwinkerte in den hellen Tag. Vor ihr stand die Bibliothekarin, blass vor Schrecken. “Habe ich Sie gestern Abend eingesperrt?”- "Ich muss hier auf diesem Sessel eingeschlafen sein, ohne dass Sie mich entdeckt haben”, stammelte Judith schuldbewusst. Die Bibliothekarin bot ihr heißen Kaffee an.

“Kann ich mir noch mehr Bücher ausborgen?",fragte Judith, die die beiden Bücher in der Hand hielt, die sie sich vor Stunden geholt hatte.

“Sicher!” Zielstrebig ging Judith auf die Anthologie der modernen Lyrik zu.

“Mögen Sie Gedichte? -Ehrlich gesagt, kenne ich nicht viele. Ich möchte da mal reinschauen, um Neues kennenzulernen. Auf dem Weg zum Tresen der Bibliothekarin schnappte sie sich noch aus dem Holzzug den “Kleinen Bären. -" Das Buch nehme ich für das Kind meiner Nachbarin mit, auf das ich manchmal aufpasse.

Zufrieden verließ Judith an diesem Morgen die Bibliothek.

"Jetzt sind wir ja wieder vereint und müssen uns nicht streiten, wer lieber gelesen wird", murmelten die Buchseiten. Ob sie uns geträumt hat?"

 

erschienen auf story.one, am 6.2.2022

 

 


Ich schreibe seit einiger Zeit auf der online Plattform story.one. Mit unten stehenden link kommt man zu meiner stories und dort finden sich dann Hinweise zu weiteren Geschichten.

 

https://www.story.one/u/sonja-runtsch-dworzak-25347/zwei-salzburger-in-berlin

 

Wir schreiben den 20.Mai 2007. Ich hatte ein beschissenes Jahr hinter mir. Mein Partner kam im Jahr davor bei einem Autounfall ums Leben, ich selbst war monatelang krank und hatte berufliche Schwierigkeiten. Das Burn out erwischte mich voll. Auf Anraten meines Arztes nahm ich mir eine Auszeit und plante eine Reise nach Berlin. Mit einem Busunternehmen sollte ich vom Donnerstag Feiertag Christi Himmelfahrt bis zum Sonntag- als vom 17.Mai bis 20.Mai eine organisierte Reise nach Berlin machen. Plötzlich kam ein Anruf, dass ein Platz im Flugzeug frei geworden ist. Somit gewann ich eigentlich zwei Tage, denn von Salzburg nach Berlin mit dem Flieger dauert es eine Stunde. Endlich weg von dem Elend, hinein in unbekannte Gefielde. Ich unternahm auf eigene Initiative Rundfahrten mit einem Doppeldeckerbus, wanderte Unter den Linden, betrachtete die Trümmerfrauen am Alexanderplatz. Am Abend sang die Netrebko in der Berliner Oper und die Aufführung wurde auf die Straße übertragen, ein Highlight! Die Tage vergingen wie im Flug, der Sonntag kam und ich hatte Zeit übrig, weil mein Retourflug erst am Abend ging. Wie ich so durch Berlin schlenderte, bemerkte ich Schiffsrundfahrten, die vom Berliner Dom abfuhren. Der Skipper läutete schon die Glocke, bereit zur Abfahrt. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte ihm zuwinkend los. Mit breitem Grinsen wartete er auf mich. Er streckte mir die Hand entgegen und ich sprang ins Boot. Gleich in der ersten Bankreihe war Platz. Dort saß allein mit beiden Armen über die Lehne gestreckt ein großer Mann. Höflich fragte ich ihn, ob da noch Platz wäre. Er sah mich an, murmelte fast unverständlich “Ja", räumte nicht gerade begeistert seine gelbe Outdoorjacke weg und machte mir Platz. Nach einigen Minuten ergab sich ein Gespräch, aber nur in kurzen Sätzen. Ich erkannte die Sprachmelodie. "Sie sprechen salzburgerisches Deutsch", sagte ich. Er: "Ich bin aus Salzburg!" Ein schiefer Blick meinerseits, bevor ich erwiderte:"Ich auch!" Jetzt drehte er sich erstaunt zu mir. Was soll ich sagen? Am Ende der Bootsfahrt fragte er mich, ob er sich mir anschließen dürfe. Mit einem Lächeln nickte ich ihm zu. Der Tag wurde zu einem Präludium meines neuen Lebens. Wir erklommen die 180 Stufen in die Kuppel des Berliner Doms, dann ging es abwärts zu den Hohenzollern. Bei fast dreißig Grad spazierten wir zum Gasthaus, wo Angela Merkel zu speisen pflegte. Er begleitete mich am Nachmittag zurück zum Alexanderplatz, wo ich in die U-Bahn einstieg und zum Hotel zurückfuhr. Am Abend hatten wir vom Flughafen Tegel um zwanzig Uhr unseren Rückflug. Er war schon da und organisierte die Sitzplätze. Am Kofferband in Salzburg tauschten wir unsere NAMEN! und Adressen aus. Wir wohnten in derselben Wohngegend, waren beide begeisterte Hundebesitzer, hatten dieselben Gassi- Runden und uns nie im Leben getroffen. Am 20.Mai 2017 heirateten wir, in unseren Eheringen steht aber der 20.Mai 2007 graviert. Übrigens mein Mann heißt Alexander!

 

© Sonja Runtsch-Dworzak 2022-01-22

https://www.story.one/u/sonja-runtsch-dworzak-25347/was-ich-dir-sagen-will